Nachhaltigkeit gilt als Top-Thema in der Versicherungsbranche, doch nachhaltige Versicherungsprodukte sind absolute Exoten am Markt und werfen bei Branchen-Expert*innen viele Fragen auf: Wirken sich nachhaltige Präferenzen auf die Kundenstruktur in der Versicherungsbranche aus? Wer sucht nachhaltige Versicherungsprodukte? Wie findet man diese Zielgruppe? Wie können Angebote auf die Zielgruppe zugeschnitten werden?
Zusammen mit der Universität St. Gallen nehmen wir uns in der Studienreihe „Policen für den Planeten. Nachhaltige Versicherungsprodukte zwischen Nachfragevakuum und Profilierungschance“ diesen und weiteren Fragen an. Im nun erschienen ersten Studienteil werden die Perspektiven der Entscheider*innen großer Versicherer (u. a. Alte Leipziger, DEVK, smile, VKB, WWK) sowie der Kund*innen in Deutschland und der Schweiz qualitativ bzw. quantitativ beleuchtet.
Die Studie offenbart: Obwohl Nachhaltigkeit gesellschaftlich ein Mega-Trend ist, ist sie in Bezug auf Versicherungen Stand heute weit davon entfernt, das Kaufverhalten der Kund*innen weg von Preis und Leistung zu bewegen. Dennoch gibt es eine nachhaltig orientierte Potentialgruppe von knapp ein Viertel der Versicherungskunden, die bedürfnisorientierten und innovativen Produktkonzepten gegenüber aufgeschlossen sind.
Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick:
- Zusammenhang unklar: Die Mehrheit der befragten Kund*innen sieht keinen klaren Zusammenhang zwischen Versicherungen und Nachhaltigkeit. Nur etwa 20 Prozent der Befragten erkennen eine starke Verbindung. Nachhaltigkeit ist aktuell für die breite Masse kein relevanter Entscheidungsfaktor.
- First Mover gesucht: Es gibt keine Versicherungsgesellschaft, die von einem relevanten Teil der Bevölkerung als besonders nachhaltig wahrgenommen wird – daraus ergebt sich eine Profilierungschance für einen First Mover. Bekanntheit und Nachhaltigkeitskompetenz korrelieren sehr stark, was verhaltensökonomisch gut erklärbar ist.
- Potential bei knapp ein Viertel des Gesamtmarkts: Der Gesamtmarkt weist ein Segment von 23,3 % auf, in dem die Menschen eine eindeutig nachhaltige Einstellung aufweisen. Diese nachhaltigen Personen verteilen sich weitgehend homogen auf die vier Versicherungskundentypen „Price Seeker“, „Smart Shopper“, „Convenient Buyer“ und „Service Seeker“.
- Merkmale der nachhaltigen Zielgruppe: Nachhaltige Versicherungskunden sind zum großen Teil weiblich, akademisch höher gebildet, digital-affiner, etwas weniger preissensibel, erheblich kritischer gegenüber Nachhaltigkeitsaussagen von Versicherungen selbst und wählen Policen differenzierter aus.
- Attraktivität der Zielgruppe: Die nachhaltigen Versicherungskunden besitzen tendenziell mehr Versicherungspolicen, was auf eine größere Vorsicht und Langfristigkeitsorientierung hindeutet. Frühere Studien zeigen, dass sie zudem weniger Schäden verursachen. Zusammengenommen macht sie das zu besonders attraktiven Kund*innen.
- Nachhaltige Alternativen für Standardpolicen gefordert: Bei Policen, bei denen das versicherte Objekt im öffentlichen Diskurs als ökologisch problematisch diskutiert wird (KFZ‑, Wohngebäude‑, Reisekrankenversicherung), markieren die Befragten den Beitrag der jeweiligen Versicherung zur Nachhaltigkeit am klarsten. Nachhaltige Alternativen werden vor allem bei Privathaftpflicht‑, Hausrat- und KFZ-Versicherungen gefordert.
- Verhaltensökonomisch fundierte Produktentwicklung: Erste Anhaltspunkte für die Produktentwicklung nachhaltiger Policen sind identifiziert. Es gilt, Bedürfnisse konkret in Leistungsmerkmale zu übersetzen und Verbindungen zur Lebensrealität der Kund*innen herzustellen.
Studienautor Dr. Philipp Spreer, Managing Partner bei elaboratum: „Im Kontext von Nachhaltigkeit in der Versicherungsbranche begegnet uns ein klassisches Henne-Ei-Problem: Solange auf der Anbieterseite ein Vakuum herrscht, können Kund*innen trotz nachhaltiger Einstellung keine nachhaltigen Policen kaufen. Mit unserer Studie konnten wir aufzeigen, dass das Marktpotential aber durchaus gegeben ist.“
Prof. Dr. Peter Maas, Professor für Service und Insurance Management an der Universität St. Gallen, ergänzt: „Die Kombination ohnehin schon abstrakter Versicherungsprodukte mit dem vielschichtigen Thema ‚Nachhaltigkeit‘ macht es Kunden nicht leichter, einzuschätzen, wie ein konkreter Beitrag der Assekuranz im Bereich Sustainability aussehen könnte. Während die Rolle der Versicherer im Asset Management noch am ehesten nachvollzogen werden kann, wird der Beitrag im Kerngeschäft (Underwriting, Produkte etc.) weniger wahrgenommen. Dabei haben Versicherer hier sehr konkrete Ansatzpunkte, kundenverhaltensbasierte Erkenntnisse für die Entwicklung innovativer Dienstleistungen mit Nachhaltigkeitsbezug zu nutzen, vor allem im Bereich Prävention oder der nachhaltiger Lebensstile. Die Studie liefert spannende Insights zu Potenzialen und Optionen, die in der Praxis sofort genutzt werden können.“
Methodik: Für die repräsentative Kundenerhebung wurden 1.660 Teilnehmende aus Deutschland und der Schweiz befragt. Teilnahmeberechtigt waren Personen, die in den letzten zwölf Monaten Versicherungen gekauft haben und Versicherungsentscheider*in im eigenen Haushalt sind. Die Erkenntnisse aus der Befragung wurden von renommierten Branchenentscheider*innen und – expert*innen aus beiden Ländern eingeordnet, die semi-strukturiert zu den Ergebnissen interviewt worden sind. Wichtig: In Folgeteilen der Studie werden auch die Perspektiven der Vertreter*innen und Makler sowie ein Produktentwicklungsimpuls geliefert.